DrogenGenussKultur |
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3. Suchttheorien und SuchtmodelleDie Erklärungen der Sucht sind in ihrer Vielzahl kaum zu überblicken. Man ist fast versucht, nicht nur von einer Inflation der Süchte zu sprechen, sondern vor allem von einer Inflation der Suchttheorien. Gleichwohl lassen sich drei große Erklärungsvarianten unterscheiden:
3.1. DefektmodellePsychologische Erklärungsversuche gehen häufig davon aus, daß es eine feststehende
Suchtpersönlichkeit gebe, also Konstellationen von Persönlichkeitsmerkmalen, die bereits im Vorfeld
einer Suchtkarriere den Süchtigen vom Nichtsüchtigen unterscheiden. Durch standardisierte Persönlichkeitstest
versuchte man, diese Vermutung zu verifizieren - allerdings ohne Erfolg. Nach Lorenz Böllinger
u.a. 23 Eine andere Herangehensweise der Psychologie wird mit dem Terminus des locus of
control angewendet. Bei Personen, die ihr Leben selbst gestalten und meistern zu können glauben,
spricht man von einem internal locus of control, wohingegen bei Menschen, die sich als Spielball
ihrer Umwelt betrachten, von einem external locus of control gesprochen wird. Den external gesteuerenten
Persönlichkeiten wird in dieser Theorie eine besondere Disposition zu süchtigem Verhalten zugeschrieben. 25 Psychoanalytische Ansätze sehen dagegen das Problem der Drogenabhängigkeit vor
allem bedingt durch frühkindliche Störungen der Persönlichkeit, vor allem einer nicht ausreichenden
Ich-Stärke, wobei als Ursachen etwa Vernachlässigung, Verwöhnung, das Fehlen von Sicherheit, Wärme
und Geborgenheit u.ä. in frage kommen können. "Die Droge dient nun [...] als Kompensation von
Ich-Schwäche, als Ersatz für Defizite in der Persönlichkeitsstruktur. So können Menschen, die aufgrund
von frühkindlichen Beziehungsstörungen zu Depressionen neigen, das Gefühl der Leere, Sinnlosigkeit
und Kontaktunfähigkeit durch Drogenkonsum zu kompensieren suchen [...] Der Süchtige versucht gleichsam
sein instabiles, löchriges Selbst durch die Droge zu plombieren." 26 Das Problem der psychologischen Ansätze zur Erklärung von süchtigem Verhalten ist,
daß sie zwar einerseits einige Einzelfälle und einzelne Karrieren zu erklären vermögen, andererseits
aber - entgegen ihrer Absicht - keine allgemeingültige, prognostische Theorie zur Verfügung stellen.
Dies kann auch kaum verwundern, beziehen sie, wie auch die Psychiatrie oder gar die Gerichtsmedizin,
ihre Erkenntnisse zumeist doch aus der Behandlung auffällig bzw. klinisch gewordener Fälle, womit
ihnen systematisch jene Fälle entgehen, bei denen zum Beispiel die gleichen Ursachen eben nicht
zu süchtigem Verhalten führen. Das heißt sie können letztlich nicht erklären, wie gleiche Ursachen
gewissermaßen zu verschiedenen Symptomen führen. Ebenso verhält es sich mit soziologischen Erklärungsversuchen
von Sucht und Abhängigkeit. So können etwa die Lern- und Verhaltenstheorien zeigen, daß positive
Sanktionen, wie Anerkennung und Zuwendung innerhalb einer Gruppe, das Erlernen bestimmterVerhaltensweisen
(wie eben z.B. des Drogenkonsums) begünstigen können, und daß, zu einem späteren Zeitpunkt, der
Drogenkonsum zudem dazu benutzt wird, wiederum die negativen Folgen dieses Konsums kurzfristig zu
bewältigen. Aber warum z.B. nicht alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe abhängig werden, bleibt unerklärt.
Das gleiche gilt auch für Ansätze, die der Anomietheorie von Robert K. Merton, 27
3.2. Naturwissenschaftliche ModelleDer populärste, verbreitetste und scheinbar plausibelste Erklärungsversuch ist
zur Zeit allerdings wiederum ein naturwissenschaftlicher: die sogenannte Rezeptoren-Theorie. In dieser
Theorie, die Bezug nimmt auf das oben bereits thematisierte Belohnungssystem des zentralen Nervensystems,
erklärt man z.B. Heroinsucht damit, daß das Heroin Rezeptoren im Gehirn besetze, die sonst mit körpereigenen,
morphinähnlichen Stoffen (Endorphinen) besetzt würden. 31 Nun ist die allgemeine Funktionsweise der Rezeptoren und der dazugehörigen beziehungsweise
dazu passenden körpereigenen Substanzen sehr plausibel, gleichwohl aber gibt es zahlreiche Untersuchungen,
die rein naturwissenschaftliche Erklärungsversuche der aus dem Vorhandensein von Rezeptoren folgenden
(Heroin-)Abhängigkeit in Frage stellen. Einer der profiliertesten Kritiker solcher Erklärungsversuche ist
Stanton Peele, der bereits 1977 einige Aspekte aufgezählt und dargestellt hat, die zunächst die
naturwissenschaftlich häufig konstatierte Zwangsläufigkeit von Abhängigkeit und Sucht als Folge
von z.B. regelmäßigem Heroinkonsum mit starken Zweifeln versehen. Der erste Einwand betrifft den
sogenannten kontrollierten Konsum. 32 Wäre die Heroinsucht eine wirklich zwangsläufige Folge des regelmäßigen Heroinkonsums,
wären weder kontrollierter Konsum noch maturing out möglich. Erstaunlicher allerdings ist, daß
ähnliche Einwände auch für die Entzugssymptomatik gelten: "Zinberg explored this social side of
addiction more deeply when he found that withdrawal patterns themselves are markedly influenced
by social considerations. For example, Zinberg und Robertson [...] report that addicts in Daytop
Village, a treatment center in New York, do not manifest significant withdrawal symptoms because
they are not excused from work duties when they do manifest symptoms. Many of the same patients
had undergone extreme withdrawal in prison, where such behavior was expected and, in a way, endorsed.
Zinberg 35 Peele verweist weiterhin auf die Tatsache, daß selbst die Wirkung von Opiaten
zu einem erheblichen Teil von den Erwartungen, die man an die Substanz heranträgt, abhängig ist.
Er stützt sich dabei unter anderem auf die Untersuchungsergebnisse von Louis Lasagna u.a., 37 Man kann also sagen, daß weniger naturwissenschaftliche als vielmehr eine ganze
Menge unterschiedlicher kultureller, sozialer und individueller Variablen darüber entscheiden, wie
sich der Drogenkonsum beim einzelnen Konsumenten entwickelt, also auch darüber, ob z.B. eine Abhängigkeit
entsteht und wie sich diese gestaltet. Jede Beschränkung der Vielfalt dieser Variablen, beeinträchtigt
die allgemeine Erklärungskraft der jeweiligen Konzepte. Das betrifft auch solche progressiven Ansätze,
wie die Definition von Josef Schenk, 40 Und wie die fünf Blinden den Elefanten, so sehen auch wir das Phänomen der Sucht von ganz unterschiedlichen Positionen aus, sehen nur Ausschnitte, die wir dann für das eigentliche Phänomen halten. Und vielleicht setzen sich die verschiedenen Wahrnehmungen dann, wie in der Fabel von den fünf Blinden, zu einer bedrohlichen Landschaft zusammen, in der man sich vor Schlangen und gefährlichen Pfählen fürchten muß, in der eine Mauer steht mit einem seltsamen Seil, und in der man sich vielleicht nur noch auf den auch vorhandenen Baum flüchten kann. Und bei alledem liegt die Wahrheit vielleicht in einem wilden gutmütigen Dickhäuter, der sich genüßlich von fünf Blinden betasten läßt und den man zwar in den meisten Sprachen der Welt mit einem ähnlich klingenden Namen ruft, der aber wiederum auch hätte ganz anders lauten können.
3.3. Konstruktivistische und selbstreflexive AnsätzeEs ist diese Vielzahl verschiedener Meinungen und Vorstellungen über Sucht, die
konstruktivistisch orientierte Autoren wie Johannes Herwig-Lempp 41 Dieser Erkenntnis entsprechend verlieren in konstruktivistischen Ansätzen die Fragen
"Gibt es Drogenabhängigkeit wirklich" und "Wenn ja, wie ist sie korrekt zu beschreiben, zu definieren
und zu erklären?" an Gewicht. "Es wird aus der Perspektive der Konstruktivisten überflüssig, nach wahren
Antworten auf diese Fragen zu suchen, weil sie immer nur innerhalb ihres Bezugsrahmens, ihres Kontextes
beantwortet werden können." 44 Die Konsequenz, aber auch der Charme dieses Ansatzes ist es, nicht nach richtigen
oder falschen Modellen oder Definitionen zu suchen, sondern nach dem Wert der jeweiligen Konzepte zu
fragen, denn "über den Wert von Modellen entscheidet allein die Brauchbarkeit, inwieweit sich ein Modell
jeweils für bestimmte Ziele und Zwecke eignet." 45 Bereits 1985 hatte Marlene Stein-Hilbers angeregt, sich von den nahezu vollständig
an Defekt-Modellen orientierten Suchttheorien zu verabschieden, um sich selbstreflexiven Ansätzen in
der Drogenforschung zuzuwenden, denn es seien vor allem "normale Gewohnheiten und Lebensumstände [...],
die den Einstieg in den Drogenkonsum und den Verlauf von Drogenkarrieren bestimmen." 47
Beide Motivlagen seien allerdings lediglich theoretisch voneinander zu trennen und
vermischten sich auf der Handlungsebene. Zudem sei es oftmals subjektiv nicht mehr nachzuvollziehen,
ob eine Tätigkeit intrinsisch (von innen her) motiviert sei oder ausgeübt werde, um unangenehmen Gefühlslagen
zu entgehen. Welcher Art diese Tätigkeiten oder Substanzen seien, sei individuell verschieden und abhängig
von lebensgeschichtlichen Erfahrungen, subkulturellen Gewohnheiten und nicht zuletzt vom Geschlecht.
Nahezu jede Tätigkeit und jede Substanz könne in dieser Weise eingesetzt werden: Essen, Alkohol, Einkaufen,
Putzen, Schlafen, Musikhören etc. 48 Aus dieser Perspektive gewinnt süchtiges Verhalten eine ubiquitäre (allgegenwärtige) Qualität. Der Abhängige, der Süchtige ist nicht mehr der Andere, der Fremde, den es, notfalls mit mehr oder weniger gutgemeintem Zwang, einer vermeintlich universalen Moral anzugleichen gilt. Sein Verhalten entdramatisiert sich vielmehr in dem Maße, in dem wir zu erkennen beginnen, wie ähnlich es unserem eigenen Verhalten eigentlich ist. Die Frage, die sich aus einer solchen Herangehensweise ergibt, ist dann nicht mehr "Wie wird man süchtig?", sondern vielmehr die Frage "Wem nützt die Sucht?" bzw. "Wem nützt die weiterhin stattfindende Dramatisierung der Sucht?"
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