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1.4 Psychische und physische Abhängigkeit (Definition gemäß ICD-10-Kriterien)

Gemäß den Richtlinien der WHO zur Klassifizierung der Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD) ist Abhängigkeit ein in verschiedenen Formen ausgeprägtes Angewiesensein auf bestimmte Substanzen oder Verhaltensweisen. Die Spannbreite geht dabei von einfachen Gewohnheiten bis hin zur Abhängigkeit mit erheblichem Zerstörungspotential. Als "verschiedene Formen" werden die körperliche (physische) Abhängigkeit und die seelische (psychische) Abhängigkeit unterschieden und nach dem folgenden Kriterienkatalog festgestellt: 9 *

  1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren

  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums

  3. Substanzgebrauch mit dem Ziel, potentielle Entzugssymptome zu vermeiden oder akute Entzugssymptome zu mildern

  4. ein körperliches Entzugssyndrom nach Absetzen des Substanzgebrauchs

  5. Entwicklung und Nachweis einer Toleranz (Der Betroffene muß immer mehr von einer Substanz einnehmen, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Die Dosis muß immer mehr gesteigert werden)

  6. Ein eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit der Substanz, wie beispielsweise die Tendenz, die Substanz nicht nur an den Wochenenden sondern auch an Werktagen zu konsumieren und die Regeln eines gesellschaftlich üblichen Konsumverhaltens (kulturabhängig) außer acht zu lassen

  7. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen oder Vergnügungen zugunsten des Substanzkonsums (Verschiebung der Prioritäten)

  8. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen. Die schädlichen Folgen können körperlicher Art sein (z.B. Leberschädigung durch exzessiven Alkoholkonsum), oder sozialer Art (z.B. familiäre Trennung oder Arbeitsplatzverlust) oder psychischer Art (z.B. "Hangover" mit depressiven Zuständen nach Abklingen der Substanzwirkungen)

Sind drei oder mehr der acht Punkte innerhalb der letzten Monate erfüllt, dann ist man abhängig! Die Punkte (3), (4) und (5) definieren die körperliche Abhängigkeit. Sind unter den zutreffenden Punkten die Punkte (3), (4) oder (5) enthalten, dann ist eine körperliche Abhängigkeit angezeigt, sind diese nicht enthalten, dann ist eine psychische Abhängigkeit gegeben. Die Kriterien zur Bestimmung einer Abhängigkeit orientieren sich also vor allem an den Folgen des Suchtverhaltens. Die Menge einer Substanz, die jemand konsumiert, ist für die Abhängigkeitsdiagnose nach ICD-10 unwichtig!

 

1.5 Psychische und physische Abhängigkeit (Definition gemäß DSM-IV-Kriterien)

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) wird von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben. Das Hauptaugenmerk richtet das DSM-IV auf vier Störungsbilder, die im unmittelbaren Zusammenhang mit einer psychotropen Substanz stehen. Es wird unterschieden zwischen Störung durch Substanzkonsum und substanzinduzierten Störungen. Erstgenannte sind für alle Substanzen gleich allgemein definiert (Abhängigkeit und Mißbrauch). Letztere bezeichnet substanzspezifische Folgeerscheinungen hervorgerufen durch übermäßigen Konsum (Intoxikation und Entzug).

 

Substanzabhängigkeit
Patienten zeigen ein charakteristisches Muster kognitiver, verhaltensbezogener und physiologischer Symptome, trotz Einsicht in die Schädlichkeit des Konsum und seiner Folgen. Drei oder mehr der folgenden Symptome sind für eine Diagnose von Substanzabhängigkeit notwendig:

  • Kriterium 1: Toleranz
    • Kriterium 1a: Verlangen nach Dosissteigerung
    • Kriterium 1b: Verminderte Wirkung bei gleicher Dosis

  • Kriterium 2: Entzugssymptome
    • Kriterium 2a: charakteristisches Entzugssyndrom
    • Kriterium 2b: Wiederaufnahme der Substanz zur Linderung oder Vermeidung

  • (mit körperlicher Abhängigkeit, falls wenigstens ein Symptom aus Kriterium 1 oder 2 vorliegt)

  • Kriterium 3: vermehrter Konsum als beabsichtigt
  • Kriterium 4: Wunsch, den Gebrauch zu reduzieren, trotzdem keine Kontrolle möglich
  • Kriterium 5: übermäßiger Zeitaspekt (Verfügbarkeit, Konsum, Erholung)
  • Kriterium 6: Aufgabe oder Reduktion von sozialen, beruflichen oder Freizeitaktivitäten
  • Kriterium 7: trotz Einsicht in körperliche oder psychische Probleme

  • (ohne körperliche Abhängigkeit, falls kein Symptom aus Kriterium 1 oder 2 vorliegt).

 

Substanzmißbrauch
Patienten zeigen ein fehl angepaßtes Muster von Substanzgebrauch, das zu sozialen Schwierigkeiten und einem klinisch bedeutsamen Leiden führt. Mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb derselben 12 Monatsperiode muß erfüllt sein:

  • Kriterium A: Substanzgebrauch trotz wiederholten und deutlich nachteiligen Konsequenzen
    • Kriterium A1: Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen
    • Kriterium A2: Inkaufnahme körperlicher Gefährdung
    • Kriterium A3: Probleme mit dem Gesetz
    • Kriterium A4: soziale oder zwischenmenschliche Probleme

  • Kriterium B: Kriterien für Substanzabhängigkeit sind nicht erfüllt

Das psychiatrische Klassifikationssystem der American Psychiatric Association DSM-IV und auch das Klassifikationssystem der WHO ICD-10 dienten hinsichtlich ihrer pharmakologisch-substanzorientierten Sichteweise ursprünglich dazu, das Phänomen der Abhängigkeit zu beschreiben, doch führten sie in der Folge – in Zirkelschluß – vielfach dazu, das Phänomen zu erklären. 10 *

 

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9
Gemäß ICD-10-Richtlinien, veröffentlicht durch die WHO unter dem Titel International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision, Volume 3, 1994 © World Health Organization 1994 (Volume 3)
10
Soellner, R. (2000): Abhängig von Haschisch? Cannabiskonsum und psychosoziale Gesundheit, Bern, S. 55 f.